Die Hugenotten auf Reisen


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- Lea hat den Finger gebrochen

Lea hat den Finger gebrochen (2004)

 

Lea wird in 2 Monaten 7 Jahre alt. Vom Spielen mit ihrer Freundin Monique ist sie heute mit schmerzverzerrtem Gesicht zurückgekommen. Als sie mich sieht, dramatisiert sich ihr Gesichtsausdruck nochmals um hundert Prozent, sodass ich von höllischen Schmerzen ausgehen muss. „Papa“, jammert sie, „ich habe mich bei meiner Freundin einen Berg herunter gerollt und als ich aufstehen wollte, da habe ich mir meinen Finger ganz weit nach hinten verbogen.“ Ich schaue ihn mir genauer an und kann auch tatsächlich eine leichte Verdickung erkennen. Logisch, dass ich sie bedauere.

 

Sie ist im Sternzeichen des Krebs geboren und obwohl ein wenig Mitleid zweifellos bei allen kleinen Kindern gut ankommt, so saugt der empfindsame Krebs einfühlsame Worte noch etwas stärker auf als die meisten restlichen Tierkreiszeichen. Nur das zarte Fischlein kann da noch mithalten. „Ach Gott, du Arme, wie muss das bloß weh tun. Bin ich froh, dass mir nicht so etwas Schreckliches passiert ist“, bemitleide ich sie. Also, ehrlich gesagt halte ich die Sache keineswegs für so tragisch, da sie jedoch befürchtet, beim Schlafen könnte sie sich auf den Finger legen, entschließe ich mich, mit ihr ins Krankenhaus zu fahren um sicherheitshalber einen Arzt nachschauen zu lassen.

Ahh, das tut gut, von gleich mehreren Menschen bemitleidet zu werden. Zunächst die Empfangsdame, die ihren Finger bestaunt, dann die Leute im Wartezimmer, schließlich der Doktor und die Krankenschwester. „Erst Mal ab zum röntgen“, sagt der Arzt und schickt uns mit einem extra ausgestellten Überweisungsschein einen Flur weiter.

Eine Überweisung für gleich um die Ecke, denke ich mir. Was für ein Geldvermehrungstrick auf  Kosten der Steuerzahler ist denn das wieder.

Dieses ständige Mitleid der Leute für die kleine Lea hat deren Gesichtszüge zum einen stets zunächst verdunkelt, da es aber wie Balsam auf ihrer Seele wirkte, auch schnell wieder erhellt. „Papa, ehrlich, der Finger tut wirklich weh, auch wenn ich manchmal lachen muss, wirklich“, stellte sie nochmals klar, während wir zum röntgen gehen.

Dass nun sogar Bilder vom Inneren ihres Fingers gemacht werden, imponierte ihr wiederum.

„Der Finger ist leicht angebrochen. Man sollte eine Schiene anlegen“, empfiehlt der Röntgenarzt und schickt uns wieder zum überweisenden Arzt zurück. Die Bilder, die er uns in einem Umschlag mitgibt haben wir herausgenommen und auf dem Rückweg gemeinsam bestaunt.

Dann legt die Krankenschwester die Schiene an. Ich bin froh dass wir hierher gekommen sind, denn jetzt ist Leas Finger doch viel besser geschützt und die Gefahr, sich beim Schlafen zusätzliche Schmerzen zuzufügen, scheint mir gebannt zu sein.

„Hier habe ich noch einen Brief für Sie. Mit dem gehen Sie in einer Woche zum Unfallarzt und lassen den Finger kontrollieren“, weist mich die Arzthelferin an.

„Auf keinen Fall, zu dem gehe ich nicht. Dort war ich vor geraumer Zeit mit Larissa, meiner ältesten Tochter und obwohl ich für 15°° Uhr bestellt war bin ich erst um 17°° Uhr mit ihr dran gewesen. Sämtliche Leute im Wartezimmer haben gestöhnt und erklärt, das sei bei dem so üblich. Lassen Sie sich etwas anderes einfallen.“

„Nun gut, Ihre Tochter ist ja mit Ihnen privat versichert. In dem Fall kann sie natürlich auch wieder zu uns kommen.“

Ich willige ein und wir vereinbaren einen Termin für acht Tage später.

 

„Jetzt kann ich nicht mehr in die Schule, weil ich kann jetzt nicht mehr schreiben“, verkündet mir Lea auf der Rückfahrt mit felsenfester Miene. Leid scheint ihr das nicht zu tun.

„Von wegen, so einfach geht das nicht. Du musst dann eben zuhören und alle Buchstaben, die ihr jetzt lernt später nachlernen.“ „Das geht nicht, ich kann nicht schreiben und wer nicht schreiben kann, der braucht auch nicht in die Schule. Ich sitze nur so herum und kann nichts machen.“ „Also gut, bleib halt Zuhause. Pech nur, dass dir dann später die Buchstaben fehlen, die ihr morgen lernt. Wenn du sie nicht kennst, kannst du sie später nicht üben. Angenommen ihr lernt morgen das O, dann hast du niemals ein O wenn du später einen Brief schreibst.“

„Das O ist babyleicht und das kann ich schon lange.“ „Dann halt meinetwegen das A“. „Kann ich.“ „Das E.“ „Kann ich.“ „Das G.“ Stille. Versenkt, denke ich und fahre fort. „Wenn du kein G hast, dann schreibst du: Ib mir bitte ein eschenk. Ich habe heute eburtsta.“ „Das hört sich bekloppt an und wenn du Pech hast, dann bekommst du kein Geschenk zum Geburtstag.“

Sie entscheidet sich nun doch in die Schule zu gehen. Die anderen müssen dann halt schreiben, während sie nur einfach so dasitzt. Wenigstens diesen Vorteil gegenüber ihren Freundinnen wollte sie noch behalten.

 

Zuhause angekommen, lässt sie gleich ihre Schiene und den Verband, der bis zur Mitte des Unterarmes reicht, von allen Familienmitgliedern bewundern. „Der Finger ist angebrochen“, und so wie sie es betont scheint mir, dass angebrochen in ihren Augen noch viel schlimmer ist als gebrochen.

Am nächsten Tag wird ihr allmählich bewusst, dass diese Schiene äußerst störend ist und nun will sie diese wieder weg haben. Doch schon bald hat sie sich daran gewöhnt.

Acht Tage später sind wir wieder in der Klinik. Herrlich, wir werden sofort bedient. Ob es an der Privatkasse liegt? Überweisung, Röntgen gleich um die Ecke, zurück zum Doktor, Verbandswechsel und tschüß nach Hause. Ich habe ja auf dem Weg vom Arzt zum Röntgen den Finger begutachtet, Lea gebeten, diesen auf und ab zu biegen und ihn eigentlich für gut empfunden. Schmerzen hat sie auch keine mehr. Der Doktor wird wissen was zu tun ist, denke ich. Der nächste Termin ist in zehn Tagen. Pünktlich erscheinen wir und müssen keine fünf Minuten warten. Super, ich habe noch eine Menge Arbeit und ich sehe mich schon geistig auf dem Rückweg, als der Doktor verkündet: Hier Ihre Überweisung. Bitte nochmals zum Röntgen.“ Das stinkt mir. Als wir um die Ecke zum Röntgenzimmer kommen, sitzen dort ca. zehn Personen. „Zeige mir noch mal deinen Finger, Lea.“ „Mache eine Faust, jetzt mache ihn gerade, spreize alle Finger, tut noch etwas weh?“ „Nein.“ Wie auch, bereits beim letzten Mal hatte sie keine Schmerzen. „Komm, wir gehen nach Hause und sparen uns die Zeit und dem Staat Geld.“ „Das darf man doch nicht, Papa“, weiß Lea.

Mit dem gelben Schein in der Hand marschieren wir zurück. „Stimmt etwas nicht?“ ruft uns die Arzthelferin entgegen, als sie uns wieder kommen sieht.

„Also, das Röntgen lassen wir heute ausfallen. Da drüben stehen eine Menge Leute. Der Finger ist in Ordnung und Schmerzen hat Lea schon lange keine mehr. Der Finger ist nicht krumm, also gehe ich nach Hause ohne zu röntgen.“

Der Arzt hat alles mitbekommen und kommt hinzu: “Mach mal eine Faust, jetzt mache ihn gerade, spreize alle Finger, tut noch etwas weh?“ „Nein.“ „Dann lassen wir das heute mit dem Röntgen ausfallen. Ich habe ja letztes Mal die Bilder gesehen und das sah ganz gut aus.“

Na bitte, so ein Arzt kann sogar noch ohne seine Apparaturen entscheiden. Oder wollte er doch nur noch ein bisschen Umsatz machen?